Der Standard: Wiener Hungertage: „Kalorien, das is von was man stirbt“

Ronald Pohl, DER STANDARD, 14.5.2013

Mit der Theatralisierung des Nachkriegsromans „Die Kinder von Wien“ im Rahmen der Festwochen gedenkt man auch des Autors Robert Neumann

Anna Maria Krassnigg bahnt sich einen Weg durchs Sprachdickicht.

Wien – Der Kriegslärm ist verstummt. Eine Handvoll Kinder hat sich 1945 in einem Kellerloch verkrochen. Die Antihelden dieser Situation am Nullpunkt tragen die seltsamsten Namen: „Jid“, „Goi“ und „Curls“. Ein Mädchen in dieser Kellergemeinschaft heißt „Ate“, eine Abkürzung von Adeltraud. Wenn sich Adeltraud ihrer großdeutschen Vergangenheit entsinnt, wird ihr, um mit Jandl zu sprechen, ganz „pfingstig ums heil“ (sic!): „Ich mag große Sachen. Wo man in den Augen nass wird, und ,Heil‘ , und man kann nicht schlucken, so groß ist alles. Oder der Führer. Groß!“

Sie alle sind Geschöpfe des aus Wien gebürtigen Autors und Publizisten Robert Neumann (1897-1975). Der Roman Die Kinder von Wien gehört zu den beinahe vergessenen Klassikern der österreichischen Nachkriegsliteratur. Regisseurin Anna Maria Krassnigg zeigt im Rahmen der Wiener Festwochen eine Theaterfassung in zwei Teilen. Der Auftaktabend ist in der Expedithalle der ehemaligen Ankerbrotfabrik ab morgen, 20 Uhr, zu sehen.

Neumann, sagt Krassnigg, „saß leidenschaftlich gerne zwischen den Stühlen.“ Seinen größten Erfolg landete der dichtende Abenteurer bereits in jungen Jahren. Doch zum Star wurde der Vielschreiber ausgerechnet mit einer Sammlung von Parodien. Mit fremden Federn erntete 1927 höchstes Lob von Thomas Mann.

Zwischen den Welten

1934 verließ Neumann Wien. Er machte sich in seiner Wahlheimat Großbritannien um die Literatur der Emigranten verdient. 1940 wurde er als „Enemy Alien“ interniert, doch ab 1942 erschienen insgesamt sechs Romane in englischer Sprache. Neumann bildete den Fall eines Graphomanen, dem die entscheidenden Dinge bemerkenswert leicht fielen. Als Die Kinder von Wien 1948 endlich auch auf Deutsch erschien, war die österreichische Rezeption des sprachlich ungemein originellen Werkes niederschmetternd.

Die heimischen Literaturverweser glaubten die Heimat verunglimpft. Die Kellerlandschaft von Wien schien in eine Traumsphäre entrückt, zugleich ersparte Neumann den Lesern keine einzige Unannehmlichkeit.

Mädchen, fast noch Kinder, gehen auf den Strich. Einer der Burschen leidet an Durchfall, im Kinderwagen liegt ein zugrunde gehender Säugling mit Blähbauch. Die Lektüre der in einen Slang aus Deutsch, Jiddisch, American Slang und „Popolski“ verwandelten Sprache erzeugt Schwindelgefühle. Was noch schwerer wiegt: Grammatik und Syntax der Sätze sind ähnlich schwer beschädigt wie die Häuser und die Gemüter. Die AZ hatte damals nichts Besseres zu tun, als den Autor in ihrer Rezension einer Unwahrheit zu überführen: In Wien seien, entgegen der Schilderung, genügend Klosetts vorhanden!

Neumann, sagt Krassnigg, „war beleidigend gescheit – auch und gerade sich selbst gegenüber.“ Die Leiterin des Wiener Salon-5-Theaters hat sich eines Stoffes angenommen, der nach seiner Dramatisierung nicht gerade laut aufschreit. „Wir finden ein Sprachbabylon vor. Die Kinder äußern sich zu 70 Prozent in Dialogen, der Rest spiegelt ihre Gedanken wider. Im Theater würde man diese Passagen den ,Subtext‘ nennen.“

Krassnigg stellt nun beide Redeformen gegeneinander. Der Dialog gerät mit dem Subtext in Widerspruch: „Das, was die Kinder behaupten, erlebt zu haben, widerspricht dem, was sie sagen.“ Welche der beiden Ebenen die “ richtige“ sei, könne man nicht von vornherein entscheiden. Die Erinnerung und das Jetzt klaffen meilenweit auseinander. Neumann, dessen guter Ruf als Literaturfunktionär in den Wirren des Kalten Krieges völlig unverschuldet flöten ging, gehört vielleicht doch in die Reihe großer Antipatrioten wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. Von ferne erinnern die akustischen Masken der Figuren auch an Elias Canetti.

Ein Reverend nimmt sich der Ruinengeschöpfe an. Er schafft Essen herbei. Obwohl Jid, in Kenntnis alter KZ-Rationen, Bescheid weiß: „Kalorien, das is von was man stirbt.“

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