“Ein albtraumhaftes Märchen” nannte Robert Neumann, aus Wien nach England und später in die USA emigrierter jüdischer Romancier und satirischer Sprachakrobat, seinen Roman “Die Kinder von Wien oder Howeverstillalive” im Jahr 1946. Anna Maria Krassnigg, Erfinderin des wunderbaren Theaters Salon 5 und Professorin am Reinhardt-Seminar, hat für die Wiener Festwochen in der Expedithalle der ehemaligen Ankerbrotfabrik einen solchen inszeniert. Eine grausame Groteske in einem Nachkriegskeller. („Trotzdemimmernochlebendig“ war übrigens eine Bezeichnung, die Neumann auch für sich selbst benutzte.) Inhalt des nun dramatisierten Stoffes: In einer Kellerruine im Nachkriegs-Wien hausen der gerissene Schleichhändler Jid, ein KZ-Überlebender, der blonde Goy aus dem Kinderverschickungslager, “Curls”, Besitzer der Bruchbude, Ewa, minderjährige Prostituierte, weil sie in der Lagerkommandantur keinen anderen “Beruf” gelernt hat, Ate, die Ex-BDM-Führerin und ein “Kindl” mit Wasserbauch im Babywagen. Eine Teenager-WG, eine Vor- oder (wie für Jid und Ewa) eine Nachhölle, in die ein schwarzer US-Army-Reverend gerät – und Rettung verspricht. Das Ende … ist bis 31. Mai zu erleben. Nur so viel: Faschismus und Krieg zerstören den Menschen. Er ist nicht mehr zu retten. Er reißt andere sogar mit ins Inferno. Das ist Neumanns beklemmende Parabel. Kaputt ist kaputt, verdorben ist verdorben. Eine verlorene Generation …
Krassnigg, die in die Buffett-Hälfte des Riesenraums die Salon 5-Atmosphäre mit Teppichen, Tappas, Diwanen und gutem Rotwein, mitgebracht hat, hat in der Spiel-Hälfte eine Kinderschutthalde (Bühne: Lydia Hofmann, Kostüme: Antoaneta Stereva) aufgebaut. Mit Riesenteddybär und Miniatur-Teeservice, mit grindigen Matratzen und Gittern, hinter denen die Darsteller mitunter stehen. Sie haben mehreren Rollen (“Curls” wird, erkennbar an der Schirmmütze, von allen gespielt) zu bewältigen, sind nämlich Erzähler-Ich und Ich-Erzähler, Reden in der Vergangenheit von der Zukunft und in Zukunftszenen von … Misstrauen herrscht über allem. Die Leut’ sind so brutal wie ihre Zeit. Neumann erfand dafür ein Sprachbabylon – Jiddisch, Englisch, Gaunerrotwelsch, Wienerisch, auch schönbrunnerisches (vom interessierten Kellerkäufer Martin Schwanda, der hier einen Nachtklub installieren will) , “Teutsch” – wird durcheinander geredet. Als Solo, in Duetten, in einem Chor des Grauens. Vieles an diesem Abend macht das Tragische nicht unkomisch. Ein von Krassnigg eingelassenes Wechselbad der Gefühle, die manchmal wie beim Konzepttheater surrealistisch-distanziert keine Nähe zulässt, sich dann wieder so nah-emotional an die Schicksal heranzoomt, dass es einem das Wasser in die Augen treibt. Sind doch nur Kinder. Allerdings abgebrühte. Und das größte unter ihnen Militärpriester Smith (David Wurawa), einerseits verkappter Kommunist, andererseits mit der bis heute berüchtigten amerikanisch-überzeugten Weltretter-Naivität ausgestattet. Zum Todlachen lustig. Es wird die Kellergemeinde sein, das “Milieu”, das sein Leben “retten” wird.
Neumanns Text ist eine szenische Fundgrube, die Vorwegnahme eines Brechtartigen “Erst kommt das Fressen, dann die Moral”, ein Unwohlsein bereitendes Beispiel für Überlebenstrieb und Durchhaltekraft und Zähigkeit. Gott glänzt wieder einmal durch Abwesenheit. Aber der Mensch hält was aus. Er ist sein eigener Wolf. Erfährt etwa ein “Freier”, der für Ewa Leben und Ledermantel lassen muss. Und trotz Bauchstich wieder aufsteht. Der Mensch ist ein Wiedergänger. Und den Satz mit dem “aus der Geschichte nichts lernen …” kann man sich hier sowieso sparen. Dass Erwachsene Kinder spielen, und das unpeinlich, ist ein Verdienst von Anna Maria Krassnigg. Nicht einmal blitzt der Gedanke auf, dass da keine 13-, keine 15-Jährigen vor einem stehen. Den Abend dominiert ein großartiger Daniel Frantisek Kamen als melancholischer-knallharter (welch eine Mischung!), auch sprachlich perfekter Jid. Einer, der weder sich noch andere schont. Kirsten Schwab gibt eine Ewa, die sich ihrer Sexyness durchaus bewusst ist, aber ansonsten keine Hunderterbirne hat. Jens Ole Schmieder ist ein einmal kindlicher, dann wieder messerscharfer Goy. Petra Gstrein sucht als Ate nach Verlust des “Führers” immer noch (totalitaristische) Führung – und findet sie bei den Russen. Werner Brix zeigt sich als Verwandlungskünstler des Abends. Er singt mit David Wurawa auch das von Christian Mair neu vertonte Wienerlied vom “Lieben Augustin”. Alles ist hin.
Neumann ist ein Autor, den es dringend wieder zu entdecken gilt. Anna Maria Krassnigg ist ihm schon verfallen: Ab 31. November zeigt sie im Salon5 “Hochstapler. Rasante Flucht nach Robert Neumann.” Davor gibt es von 12. bis 14. Juni im Salon 5 den zweiten Teil von “Die Kinder von Wien”: die History hinter der Story sozusagen, Gespräche mit Zeitzeugen, Kindern von Wien, Wissenschaftlern und Künstlern.
http://www.mottingers-meinung.at/wiener-festwochen-die-kinder-von-wien-2/
16.5.2013