Kulturwoche.at: Jenseits des Meridians der Verzweiflung

Im Rahmen der Wiener Festwochen bringt der Salon 5 unter der Regie von Anna Maria Krassnigg nach Robert Neumanns Roman das Bühnenstück „Die Kinder von Wien oder HOWEVERSTILLALIVE“ in die Expedithalle der ehemaligen Ankerbrotfabrik.

Notizen und sprunghafte Gedanken zu einem Theaterstück, das in seiner überhöhten Satire und Zynismus bewegt und die Trümmer zum Vorschein bringen, Teil 1. Die Kinder warten in Wien. Rauch steigt auf über dem Nordbahnhof. Soldaten schreien. Eine Verhaftung. Passkontrolle. „Ich war drei Jahre im Lager inhaftiert!“ „Ich war sechs Jahre im Lager!“ „Schreien Sie mich nicht an!“ Düster-staubige Stimmung. Alles ist zerstört und auch die Hoffnung ist schwer krank. Freischnaps und Radio. „Ich such jemand.“ „Da ist kein Jemand.“ Alles ist hin. Die Intelligenz ist ausgerottet. Null ist das Datum. Auf den Fahrerjacken ist Blut. „Was weiß ein Trottel wie du von Blut?“ Der Begriff Antisemitismus hat eine neue Bedeutung. Das gute Leben eine Illusion. „Früher hab ich gern Filme gesehen vom Führer.“

Children of Vienna

Der während des Zweiten Weltkriegs nach England emigrierte und dort zeitweilig internierte Autor Robert Neumann (geb. 22.5.1897 in Wien; gest. 3.1.1975 in München) schrieb seinen Roman „Children of Vienna“ innerhalb weniger Wochen in der Absicht, das Gewissen der Siegernationen „um der Kinder Europas willen“ wachzurütteln. Die Geschichte selbst spielt dabei in einer Fabelstadt, die Neumann der Einfachheit halber Wien nannte. Neumann: „Aber sie könnte wo immer liegen jenseits des Meridians der Verzweiflung.“ Neumann schrieb hier die Geschichte von fünf Kindern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Keller eines zerbombten Hauses leben. Der Judenjunge Jid, der deutsche Blonde, die 14-jährige Prostituierte Ewa, der gleichaltrige Goy und das halbverhungerte Kleinkind Kindl versuchen mit kleinen Diebstählen sich am Leben zu erhalten. Da taucht ein in der Verwaltungsbehörde arbeitender Nazi auf, der sich den Keller aneignen möchte und der afro-amerikanische Geistliche Smith, der die Kinder mit Hilfe seiner Ersparnisse und mit gefälschten Papieren in die Schweiz bringen möchte.

Paragraf 6

Notizen und sprunghafte Gedanken, Teil 2. „Dass wir die Irren umgebracht haben ist doch in Ordnung, oder?“ Gedicht. Wozu ist ein Gedicht gut? „Ich kann ein Gedicht, das sich aber nicht reimt. Paragraf 6: Nach der endgültigen Zerstörung der Nazi-Tyrannei hoffen wir auf Frieden, der allen Nationen die Möglichkeit bietet, innerhalb der eigenen Grenzen sicher zu leben, und der allen Menschen die Sicherheit gibt, in ihren Ländern frei von Not und Furcht zu leben. Unterzeichnet Churchill und Roosevelt.“ Gedicht. Wozu ist ein Gedicht gut?

Eindringliches Werk

Die Sprache ist knapp, das Hauptgewicht liegt auf den Dialogen und die Krassheit der Darstellung macht Kinder von Wien zum eindringlichsten aller Werke Neumanns – immerhin veröffentlichte er zeitlebens weit mehr als hundert Bücher. 1933 landeten die Bücher des „Literaturjuden“ Neumann auf nationalsozialistischen Scheiterhaufen. Nach dem Krieg und dem Welterfolg seines Kurzromans „Children of Vienna“ kommentierte Neumann vom Tessin aus das bundesdeutsche Wirtschaftswunder auf seine Weise. Hör- und Fernsehspiele entstanden, ein Dokumentarfilm über Adolf Hitler, dazu schonungslose Bilanzen der Ära Adenauer. Vergessen allesamt. Zu Unrecht. Bis jetzt, denn Anna Maria Krassnigg holt ihn uns wieder ins Bewusstsein. Alleine dafür ein großer Dank.

Was ein Feind ist

Notizen und sprunghafte Gedanken, Teil 3. Exzellentes Schauspiel aller Beteiligten. Darstellung zwischen Wehmut und Irrsinn. An Pointen reich und absurd. In der Post-Apokalypse gibt es kein Gut und kein Böse, nur eine Scheinwelt und Scheinmoral. „Ich hab fünf Soldaten umgebracht – Feinde!“ „Was ist ein Feind?“ „Einer, dessen Name man nicht weiß.“ Kinder ohne Zukunft führen Krieg mit der Gegenwart. Hilfe bekommen die „Kinder von Wien“ von einem US-amerikanischen Offizier, der auch Reverend ist. Nigger-Offizier wird er von ihnen genannt. „Er wird uns bei allem helfen. Zum Beispiel Kinokarten kaufen.“ Das Grausige, Unfassbare erhält in der Sicht der Kinder den Anschein des Normalen und Selbstverständlichen. An der schönen blauen Donau. Jid: „Das haben sie in Auschwitz immer auf dem Lautsprecher gespielt, damit man den Krach nicht hört, wenn einer vergast wird.“ Der naive Held scheitert. Smith: „Und morgen! And Tomorrow! Die Welt! The World!“ Die Kinder von Wien: „Was tun an sie uns?“ – „Nix.“ – „Nix.“ Ein großartiges Schauspiel, hervorragend umgesetzt. (Text: Manfred Horak)

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